Wir nehmen Abschied von Prof. Dr. Hans-Friedrich Grützmacher
28. Oktober 2025, von Dietmar Kuck

Foto: privat
Am 23. September 2025 starb Professor Dr. Hans-Friedrich Grützmacher im Alter von 93 Jahren. Seine Kollegen, Schüler und Freunde haben mit ihm eine Persönlichkeit verloren, die dem Fachbereich Chemie der Universität Hamburg viele Jahre lang eng verbunden war.
Hans-Friedrich Grützmacher wurde am 4. April 1932 in Hamburg geboren. Er studierte Chemie an den Universitäten Göttingen und Hamburg, wo er 1959 bei Prof. Dr. Dr. h.c. Kurt Heyns mit der Dissertation „Sterische und induktive Effekte bei der Darstellung und Hydrolyse von Polypeptiden“ promoviert wurde. Im Jahre 1965 habilitierte er sich an der Universität Hamburg mit der Arbeit „Die Massenspektren von acetylierten Peptiden und ihre Verwendung zur Bestimmung der Aminosäuresequenz“. 1973 wurde er zum Wissenschaftlichen Rat und Professor ernannt, lehnte jedoch die Ernennung zum Professor H3 ab. Stattdessen nahm er im gleichen Jahr den Ruf als ordentlicher Professor H4 auf den Lehrstuhl Organische Chemie I an der damals noch sehr jungen Universität Bielefeld an, den er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1997 innehatte.
Bereits als Student und junger Doktorand sammelte Hans-Friedrich Grützmacher viel Erfahrung beim Arbeiten in neu aufzubauenden Laboratorien. Von seiner Hamburger Studien- und Promotionszeit unter der Ägide von Kurt Heyns in der Außenstelle des Instituts in der Villa Tannenhöft bei Ahrensburg erzählte er später oft. Im Jahr 1963 gehörte er neben Wolfgang Walter und Hans Paulsen zu den ersten Nachwuchs-Organikern, die das neue Institut für Organische Chemie an der Bundesstraße bezogen, wo auch die Habilitation erfolgte. Die fachliche und menschliche Prägung dieser frühen Jahre machten den jungen Hochschullehrer zu einer der herausragenden Persönlichkeiten der auch im Hamburger Fachbereich aufgeregten späten 1960er Jahre. 1972 wurde er zu dessen Sprecher gewählt. Mit der Berufung als erster Professor für Chemie an die 1969 gegründete Universität Bielefeld schloss sich ein Kreis: Provisorisch zunächst bei der Firma Dr. August Oetker und dann bei den Bielefelder Verhaltensforschern untergebracht, führte Grützmacher mit seinen Kollegen die junge, dynamische Fakultät für Chemie zu viel Erfolg. Er war Gründungsmitglied des Senats und von 1975 bis 1980 Prorektor für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs der Universität Bielefeld.
Kurt Heyns ist es ursprünglich zu verdanken, dass Hans-Friedrich Grützmacher eine herausragende Persönlichkeit der Massenspektrometrie in Deutschland wurde. Wie Wolfgang Walter berichtete, wurde seinerzeit in der Villa Tannenhöft das erste in einem deutschen Universitätsinstitut aufgestellte Massenspektrometer in Betrieb genommen.[1] So wurde Grützmacher einer der ersten Organiker, der sich mit der Analytik von Peptiden und sogar von Zuckern mittels der (klassischen) EIektronen-Ionisations- (EI-) Massenspektrometrie beschäftigte - ein Forschungsfeld, das erst Jahrzehnte später durch die Entwicklung verschiedener neuer Ionisierungsmethoden die Analytik von Biooligomeren und Biopolymeren revolutioniert werden sollte.
Sein Inspirator Heyns überzeugte Hans-Friedrich Grützmacher auch, anstelle einer vielversprechenden Karriere in der Chemischen Industrie seinen Weg in der akademischen Welt zu suchen. Dies bot sich an, weil damals auch die Analyse von Biooligomeren durch die Kopplung der Vakuum-Pyrolyse mit der EI-Massenspektrometrie aussichtsreich erschien. Schnell zeigte sich jedoch, dass einerseits die Pyrolyse geeigneter (aromatischer) Vorläufer den Zugang zu interessanten instabilen, hochreaktiven Teilchen – vorwiegend Dehydroaromaten – ermöglicht, und dass andererseits die EI-Massenspektrometrie selbst sich hervorragend zur Untersuchung der intrinsischen Eigenschaften von Molekülen und Ionen in der Gasphase eignet. Statt nichtflüchtiger Zucker wurde früh die stereospezifische Wasser-Eliminierung aus ionisierten Cyclohexanol-Derivaten untersucht. So entwickelte sich schon in Hamburg aus dem jungen Naturstoff-Analytiker ein begeisterter Grundlagenforscher: Seine „duale“ Faszination für die Chemie neuartiger, ungewöhnlicher organischer Molekülstrukturen und für die Organische und Physikalische Organische Chemie isolierter Teilchen im Vakuum hat jahrzehntelang ihn und viele Mitglieder seine Forschungsgruppe angetrieben. So griff er neue Synthesemethoden ebenso erfolgreich auf wie die zahlreichen neuen Ionisierungs- und Trennmethoden der Massenspektrometrie. Diese Kombination der organisch-chemischen Synthese zur Darstellung zumeist isotopenmarkierter und/oder stereoisomerer Modellverbindungen mit den verschiedenen Methoden der Tandem-Massenspektrometrie führte in vielfacher Weise zu einem tiefen Verständnis der Chemie reaktiver Ionen im Vakuum und ihr Fragmentierungsverhalten – und damit für die Entstehung der Massenspektren selbst. Weitere Schwerpunkte Grützmachers späteren Arbeiten waren die Untersuchung verschiedenster uni- und bimolekularer Reaktionen in Vakuum, etwa die Bildung kurzlebiger Ion-Molekül-Komplexe während der Fragmentierung und die Säure-Base-Eigenschaften unsolvatisierter Spezies, sowie die Bildung und Zerfälle ionisierter Kohlenstoffcluster in der Gasphase, wie sie zum Beispiel in Flammen und Plasmen sowie als wesentlicher Bestandteil des organischen Materials in interstellaren Wolken vorkommen.
Hans-Friedrich Grützmacher war einer der Gründerväter der Arbeitsgemeinschaft Massenspektrometrie in der Gesellschaft Deutscher Chemiker. Er war auch Mitbegründer und europäischer Herausgeber der Zeitschrift „Organic Mass Spectrometry“ (1966 bis 1994) und Mitbegründer und Chairman von „European Mass Spectrometry“ (ab 1994). Viele Jahre lang war er in mehreren wissenschaftlichen Fördereinrichtungen tätig, z. B. als Mitglied der Studienstiftung des Deutschen Volkes, des Kuratoriums der Stiftung „Jugend forscht“ und im Deutschen Akademischen Austauschdienst. Er war Träger der Ehrenmedaille der Deutschen Gesellschaft für Massenspektrometrie (DGMS).
Die Kombination von Tiefe und Breite im wissenschaftlichen Denken und Arbeiten war eines der Kernmerkmale Hans-Friedrich Grützmachers. Sie war gepaart mit hohem wissenschaftlichem Anspruch, fairer, stets zugewandter Offenheit und konsequenter Förderung für neue Ideen. Zahlreiche Doktoranden und internationale Gastwissenschaftler haben die „Old School“ von Professor Grützmacher erfolgreich durchlaufen. Sein Vorbild war prägend und wegweisend für viele von ihnen, und es hat auch die Entwicklung der Deutschen Gesellschaft für Massenspektrometrie im neuen Jahrtausend lange beeinflusst.
Hans-Friedrich Grützmacher war ein hingebungsvoller Familienmensch und, wie er von sich selbst sagte, ein „Weißer Rabe“. Ein war kein Freund des „Dritten Wegs“, aber doch – jeweils aus eigener Erfahrung – ein liberaler Chef, kritischer Förderer und warmherziger Doktorvater. Letzteres wurde bei zahlreichen Gruppenausflügen und Weihnachtsfeiern – schon zu Hamburger Zeiten – deutlich, bei denen er gern dynamisch voranging bzw. fantasievolle Geschenke und Gedichte beisteuerte.
Als er mit einer kleinen Gruppe von Doktoranden Hamburg verließ, hieß es: „Es ist zwar nicht das Tor zur Welt, doch immerhin ist‘s Bielefeld!“. Aber Hans-Friedrich Grützmacher blieb immer ein Freund des Nordens und der Meere. Aus Bielefeld fuhr er nicht „runter“, sondern „hoch“ an die Flensburger Förde, in sein geliebtes Ferienhäuschen. Und von Ostwestfalen aus entwickelte er sein liebstes Hobby, das Segeln. Es brachte ihn und seine Frau jahrzehntelang an fast alle Gestade der Ostsee. Aufgrund seiner Gründerrolle für die Bielefelder Chemie hatte er nie eine Antrittsvorlesung gehalten, aber zu seiner Emeritierung im Sommer 1997 hielt er eine Abschiedsvorlesung, auf der alle Mitarbeiter seiner Arbeitsgruppe – als Matrosen kostümiert – ihm ein Ständchen sangen, über die Freuden im Labor, die Herausforderungen zielstrebiger Forschung und die liebenswürdigen Eigenarten ihres Kapitäns, frei nach Freddy Quinns Evergreen „Heimweh – Schön war die Zeit!“. Noch im Juli 2024 traf er viele seiner ehemaligen Mitarbeiter bei einem letzten gemeinsamen Wiedersehen in Halle/Westfalen – unter Beteiligung auch ehemaliger Hamburger Doktoranden. Sie alle werden ihn stets in dankbarer Erinnerung behalten.
Dietmar Kuck
[1] Wolfgang Walter: „Vorgeschichte und Entwicklung des Fachbereiches Chemie der Universität Hamburg (1613–1994)“ - Online-Version des Artikels

