Professor Hans Paulsen: Zum 100sten Geburtstag am 20. Mai 2022
20. Mai 2022, von Joachim Thiem

Foto: FB Chemie/Wittenburg
Hans Paulsen wurde am 20. Mai 1922 geboren in Altona, Preußen, das später ein Stadtteil Hamburgs wurde. Nach dem Abitur 1939 wurde er sofort eingezogen und es kamen danach schwierige Zeiten im Arbeits- und Militärdienst bis 1945. Anschließend hatte Hans Paulsen mit einer schweren Erkrankung zu tun. Dies und die komplette Zerstörung der Infrastruktur in Deutschland führten dazu, das er erst 1948, im Alter von 26 Jahren, das Chemie-Studium in Hamburg beginnen konnte. Nach dem Hauptdiplom 1953 promovierte er bereits 1955 zum Dr. rer. nat. an der Universität Hamburg in der Arbeitsgruppe von Prof. Kurt Heyns. 1962 folgte die Habilitation in der Fakultät für Mathematik und Naturwissenschaften mit der Schrift „Monosaccharide mit Stickstoff im Ring“.
In der raschen Retrospektive dieser frühen Phase des wissenschaftlichen Wegs von Hans Paulsen werden die erheblichen Probleme kaum wahrnehmbar. So sei nur daran erinnert, dass in diesen Jahren die Ausbildung und die wissenschaftlichen Arbeiten in provisorischen Gebäuden mit einer Ausstattung erfolgen musste, die nur annähernd minimale Anforderungen erfüllte.
Ab 1953 wurde Hans Paulsen wissenschaftlicher Assistent im Arbeitskreis Heyns, und daher hatte er sich neben dem Unterricht und der Forschung zunehmend mit Planungsaufgaben und Bauüberwachung beim Aufbau des neuen Chemiezentrums der Universität zu befassen. Erst nach dem Bezug des Neubaus zwischen Bundesstrasse und Grindelallee 1962 lagen endlich angemessene Arbeitsbedingungen vor. Nach der Privatdozentur wurde Hans Paulsen 1968 zum Universitätsprofessor ernannt. Den Ruf auf einen Lehrstuhl an die Universität Kiel 1971 lehnte er zu Gunsten einer neu geschaffenen Professur für Naturstoffchemie in Hamburg ab, und diese Position bekleidete von 1972 bis zu seiner Emeritierung 1987.
Hans Paulsens wissenschaftliches Werk liegt im Herzen der Kohlenhydratchemie. Zu Beginn war er von den Arbeiten seines akademischen Lehrers Kurt Heyns, eines wissenschaftlichen Enkels des ersten Chemie-Nobelpreisträgers (1902) Emil Fischers, beeinflusst, wie sich in zahlreichen gemeinsamen Publikationen über zwanzig Jahre zeigt. Ihrer ersten Veröffentlichung 1953 über die katalytische Oxidation von myo-Inosit folgte eine Serie von Studien über die konfigurativen sowie konformativen Selektivitäten bei der Platin-katalysierten Oxidation. Jahrelang blieben diese Befunde im Hintergrund, weil verschiedene gezielte Oxidationen partiell geschützter Saccharid-Derivate dominierten. Allerdings hat in jüngerer Zeit das Interesse an solchen Methoden vor allem im Zusammenhang mit Synthesen von Oligosacchariden mit Glycuronsäure-Funktionen zugenommen.
Ganz Ähnliches beobachtet man in Bezug auf Hans Paulsens erstes eigenständiges Thema, nämlich den Kohlenhydraten mit Stickstoff im Halbacetalring. Während in den frühen sechziger Jahren vornehmlich die chemischen Aspekte dieser Substanzklasse untersucht wurden, gewannen derartige Derivate aufgrund ihrer biologischen Funktion als höchst potente Glycosidase-Inhibitoren besondere Aufmerksamkeit. Später konnten Paulsen und Mitarbeiter das Spektrum der Studien über Stickstoff-haltige Monosaccharide auf Hydrazino- sowie Azido-Derivate ausdehnen. Ein weiteres interessantes Forschungsgebiet befasste sich mit Acyloxonium-Umlagerungen in der Kohlenhydratchemie. Berühmt geworden sind namentlich die präparativ-nutzbare Acetoxonium-Umlagerung von D-Glucose in D-Idose sowie die von Cyclopentanpentol.
Sehr früh hat Hans Paulsen den besonderen Wert der Kernmagnetischen Resonanzspektroskopie (NMR) für Strukturzuweisungen komplexer Kohlenhydrate erkannt, und bereits 1965 finden sich erste Arbeiten unter Anwendung dieser Technik. In der Folgezeit wurde die NMR-Spektroskopie in der Organischen Chemie in Hamburg zielgerichtet ausgebaut. Bis heute steht diese Methode mit inzwischen weit leistungsfähigeren Instrumenten im Zentrum vieler Strukturuntersuchungen im gesamten Bereich der Chemie. Wichtige Beiträge zu Konformationen von Monosaccharid- und später Oligosaccharid-Derivaten, zum Verständnis des exo-anomeren Effekts, sowie weitere dynamische Studien mittels NMR stammen vom Arbeitskreis Paulsen, wobei auch chirooptische und Röntgenstruktur-Studien vorteilhaft einbezogen werden konnten.
In den frühen siebziger Jahren wurden weitere Themenbereiche wie phosphorhaltige Saccharide und Kohlenhydrate mit verzweigten Funktionsketten bearbeitet. Neue sowie verbesserte Synthesen verschiedener wichtiger Zucker wie z.B. L-Streptose und D-Hammamelose wurden erarbeitet. Mitte der siebziger Jahre folgte noch ein Zugang zur sehr anspruchsvollen Cyclitol-Chemie, aber dann verschob sich das Interesse der Paulsen-Gruppe in der Synthese von Mono- zu Oligosacchariden.
Eingangs wurden die Aminoglycosid-Antibiotika bearbeitet, aber danach folgten rasch weitere Studien in der Oligosaccharid-Synthese. Aus der vorteilhaften Einführung der Nichtnachbargruppen-aktiven 2-Azid-Gruppe ergaben sich enorm verbesserte Zugänge zu α-verknüpften 2-Amino-2-desoxy-oligosacchariden. Schließlich konnten die Oligosaccharid-Determinanten der Blutgruppensubstanzen A, B und H dargestellt werden. Im Glycolipid-Bereich erfolgte die Synthese der Oligosaccharide des Forssman-Antigens, des P-Antigens sowie der Ganglioside GM1 und GM2. Ferner wurden Wege zur Synthese der O-Glycoproteine durch Knüpfung von Kohlenhydratketten an Serin sowie Threonin ausgearbeitet, und später gelang auch die Herstellung eines Octasaccharid-Derivats, das Teil eines komplexen N-Glycoproteins darstellt.
In den nachfolgenden Jahren haben sich die Untersuchungen des Paulsen´schen Arbeitskreises immer mehr in Richtung auf biologisch relevante Zielmoleküle zu bewegt. Dabei waren vor allem Glycoprotein-Strukturen im Fokus der Bearbeitungen. Hiermit wurde auch ein allgemeiner Trend aufgegriffen, der einen erheblichen Stimulus für die Entwicklung der Glycochemie bewirkt hat.
Die von Hans Paulsen in Hamburg in Nachfolge von Schlubach und Heyns ausgestaltete Kohlenhydratchemie hat weltweite Beachtung und Anerkennung erfahren.
Das wissenschaftliche Werk von Hans Paulsen mit mehr als 500 Publikationen hat höchste nationale und internationale Auszeichnungen erfahren. So verlieh ihm die Gesellschaft Deutscher Chemiker 1980 die Emil-Fischer-Medaille, die Royal Society of Chemistry 1983 die Haworth Memorial Medal, und 1985 die American Chemical Society den Claude S. Hudson Award. 1989 erhielt er von der Tschechischen Akademie der Wissenschaften die Heyrovsky-Medaille, 1993 in Utrecht die Biyvoet-Medaille und 1996 in Japan den Riken-Eminent-Scientist Award. Hans Paulsen hat als Mitherausgeber oder Mitglied im Editorial Board zahlreicher internationaler Zeitschriften gewirkt, und als Hauptgutachter bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft jahrelang das Gebiet der Organischen Chemie in Deutschland mitgestaltet. Von diesen im Anspruch und Umfang beeindruckenden wissenschaftlichen Leistungen hat die Organische Chemie in Hamburg über viele Jahre sehr profitiert.
Neben seinen „akademischen Kindern“, Prof. Joachim Thiem, Prof. Hartmut Redlich und Prof. Thomas Peters, haben viele seiner 120 Doktoranden führende Positionen in der Chemischen Industrie in Deutschland und Europa besetzt. Insbesondere hervorzuheben sind Dr. Fred Heiker (Bayer AG, GDCh-Präsident) und Dr. Axel Heitmann (CEO Lanxess AG).
Bemerkenswerterweise steht hinter diesem enormen Impakt eine im Wesen bescheidene und zurückhaltende Persönlichkeit. Niemals laut aber immer mit überzeugendem Detailwissen hat er charismatisch die jungen Wissenschaftler zu eigenen, neuen Beiträgen angespornt. Sein zurückgezogener privater Lebensstil wurde immer dann in Teilen öffentlich, wenn er mit schönen Bildern über die Historie, die Baukunst sowie Land und Leute von zahlreichen Reisen in alle Gebiete der Welt engagiert, kundig und launig berichtete.
Anlässlich seines runden Geburtstags danken wir Hans Paulsen für seine großartigen Beiträge zur Sichtbarkeit des Instituts für Organische Chemie im Fachbereich Chemie der Fakultät für Mathematik, Informatik und Naturwissenschaften der Universität Hamburg und wünschen ihm fürderhin alles Gute.